FOKUS: GRÜN. Diskussionsabend zum Ukraine-Krieg mit Prof. Dr. Wolfram Wette am 20. Juni 2022

Am vergangenen Montag, den 20. Juni 2022, hatte der Emmendinger Kreisverband der Grünen zu einem Diskussionsabend über den Ukraine-Krieg in das Restaurant Belvedere in Denzlingen eingeladen. Zu Gast war der Waldkircher Historiker und Friedensforscher Prof. Dr. Wolfram Wette.

Zu Beginn stellte Rüdiger Tonojan vom Kreisvorstand das neue Veranstaltungsformat FOKUS: GRÜN. des Kreisverbandes vor, das sich vor allem mit Themen beschäftigen soll, die auch innerhalb der grünen Partei kontrovers diskutiert werden. In besonderem Maße gälte dies für den Umgang mit dem Krieg in der Ukraine, der für viele Grüne Auslöser eines inneren Konflikts sei – als Mitglieder einer Partei, die unter dem Motto der Gewaltfreiheit gegründet wurde, und die nun in Regierungsverantwortung mit dem Krieg konfrontiert sei. Hier möchte man eine Möglichkeit schaffen, unbequeme Themen auch über die Grenzen der Partei hinaus zu diskutieren.

Seinem Impulsvortrag stellte Prof. Dr. Wette einen Blick auf wichtige Aspekte der Friedenspolitik voran: Er begann mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Heinemann, der bereits im Jahr 1970 anmahnte, sich weniger Gedanken über den Verlauf und die vordergründigen Ursachen von Kriegen zu machen und stattdessen zu überlegen, wie man sie vermeiden könne, und der dem Frieden als Ernstfall mehr Chancen geben wollte. Danach zitierte er den kenianischen Vertreter bei den Vereinten Nationen, Martin Kimani, der angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine gefordert hatte, dass man sich unabhängig von Ethnien, Rassen oder Religionen mit den Grenzen abfinden müsse, die man geerbt habe, und schloss mit Egon Bahr, der im Jahr 2013 im Hinblick auf Kriegsgründe postulierte, dass es in der internationalen Politik immer um das Interesse von Staaten gehe, und nie um Demokratie und Menschenrechte. Insofern stelle sich die Frage, ob der Westen im Falle des Ukraine-Krieges wirklich einen Angriff auf die Demokratie sehe, oder nicht vielmehr eine Bedrohung seiner Vormachtstellung.

Dem Krieg in der Ukraine näherte sich Wette dann aus globaler Sicht: Es sei mitnichten so, dass Russland international komplett isoliert sei; vielmehr würden unter anderem bevölkerungsstarke Länder wie China oder Indien den russischen Angriff bei weitem nicht so verurteilen wie die westlichen Länder. Auch hierzulande sieht Wette keine Einigkeit in der Bewertung der russischen Aggression und dem Umgang damit; vielmehr vermisste er, dass differenzierte Meinungen in der öffentlichen Diskussion zugelassen würden. Weiter betonte er, dass Kriege grundsätzlich vermeidbar wären – wenn dies politisch gewollt sei.

 

Als Hintergründe für die schlechten Beziehungen zu Russland (und damit indirekt als ein Grund für den ohne Frage völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine) benannte er auf der einen Seite das Versäumnis des Westens, seit dem Zusammenbruch der UdSSR das Projekt eines Gemeinsamen Hauses Europa mit Russland nicht weiterverfolgt und auf der anderen Seite gleichzeitig die NATO-Osterweiterung weiter vorangetrieben zu haben – ohne auf Befindlichkeiten Russlands zu achten. In diesem Zusammenhang zitierte er Klaus von Dohnanyi, demzufolge Putin zwar der Aggressor sei, der Westen aber durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, den Krieg zu verhindern. Gleichzeitig räumte er mit einem weitverbreiteten Missverständnis auf: Zwar habe sich in Deutschland unter dem Motto „Nie wieder Krieg!“ eine für viele selbstverständliche Friedenskultur entwickelt – dies gelte aber nicht für die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, für die Krieg nach wie vor ein normales Mittel zur Konfliktbewältigung geblieben sei.

Wie geht es weiter in der Ukraine, wie kann der Krieg beendet werden? In diesem Punkt gab sich Wette keinen großen Illusionen hin. Wenn in Kriegszeiten auch niemand offen über Ziele oder Strategien rede, so könne man doch sagen, dass momentan weder Russland noch die Ukraine einen Waffenstillstand im Status Quo wollten; und auch die USA verfolgten das Ziel, Russland möglichst stark zu schwächen, und hätten aktuell kein wirkliches Interesse an einem schnellen Friedensschluss. Eine baldige Waffenruhe in der Ukraine sei wohl unwahrscheinlich – und die deutsche Politik für den weiteren Verlauf nicht relevant. Vielmehr käme es bereits jetzt darauf an, sich für eine neue Friedensordnung stark zu machen, Feindbilder zu überwinden und die Idee des Gemeinsamen Hauses Europa wieder aufzunehmen.

In der dem Vortrag folgenden Runde stellten die rund 40 Anwesenden vielfältige Fragen zum Thema, über die teilweise durchaus kontrovers diskutiert wurde. Welche Position hat Putin innerhalb des russischen Machtapparats? Wie ist die Bedrohung Russlands als Atommacht einzuschätzen? Welche Konsequenzen könnte eine militärische Einmischung Deutschlands haben – auch in Form von Waffenlieferungen? Während einerseits davor gewarnt wurde, Russland einen Grund für eine Eskalation und Ausweitung des Krieges zu liefern, vertrat Moderator Rüdiger Tonojan die Meinung, dass Putin es gar nicht nötig habe, nach Gründen zu suchen – dieser habe bereits ausreichend gezeigt, dass er sich Gründe und Vorwände nach Bedarf selber zurechtlegen könne. Darüber hinaus liege eine nicht zu vernachlässigende Motivation Putins für den Angriff auf die Ukraine nicht im militärischen oder wirtschaftlichen Bereich, sondern in der Angst davor, dass die Demokratisierungsbewegung über die Ukraine nach Russland ausstrahle und die dortige Machtbasis gefährde. Er betonte die Forderung der Grünen, nicht nur in Aufrüstung, sondern verstärkt auch in friedensstiftende und friedenssichernde Maßnahmen wie zivile Krisenprävention, starke Diplomatie und Energiesouveränität zu investieren. Abschließend waren sich Wette und Tonojan einig, dass es vor dem Hintergrund von Waffenlieferungen und Aufrüstung wichtig sei, eine Militarisierung Deutschlands und Europas zu verhindern – vor allem auch im Bezug auf Gesellschaft, Sprache und moralische Werte.